Das Blatt zeigt einen „indianischen Raben“ mit rot-gelbem Gefieder und einem krummen Schnabel, der auf einer unfertig gezeichneten goldenen Stange sitzt. Die unbewegliche Position und Haltung des Vogels lassen vermuten, dass die Zeichnung wahrscheinlich nach einer bildlichen Vorlage oder einem Präparat angefertigt wurde. Bisher ist für diese Zeichnung keine direkte Vorlage bekannt, doch häufig wurden enzyklopädische Werke wie das De avium natura von Conrad Gessner als Referenzen verwendet. Die Bezeichnung „indianischer Rabe“ erhielten mehrere Papageienarten aus tropischen Gebieten, die einen keilförmigen Schwanz aufwiesen. [1] Insbesondere galt dieser Ausdruck für den Vogel, der heute Scharlachara ( Ara macao ) genannt wird. Nur stimmt die Farbgebung dieses Exemplars nicht mit der Zeichnung überein. Auch existiert weder unter den heute lebenden Papageienarten, noch unter den Arten, die seit 1500 ausgestorben sind, ein vergleichbares Exemplar. Dies lässt vermuten, dass in der vorliegenden bildlichen oder textlichen Vorlage Merkmale verschiedener Arten zusammengeflossen sind. Das Interesse des deutschsprachigen Raumes an exotischen Vögeln ist seit dem Ende des 15. Jahrhunderts nachweisbar, als die von Christoph Kolumbus aus der Neuen Welt mitgebrachten Papageienarten an den Fürstenhöfen Europas bekannt wurden. Im 17. Jahrhundert begannen auch deutsche Abenteurer, tropische Regionen aufzusuchen und darüber zu berichten. In dieser Zeit waren europäische Forscher und Künstler von der Entdeckung und Erforschung exotischer Welten durch die Kolonialisierung und den Handel begeistert und entwickelten ein gesteigertes Interesse an außereuropäischen Vogelarten. Viele Zeichnungen von exotischen Vögeln im 17. Jahrhundert beruhten auf früheren in Alkohol oder Salz konservierten Exemplaren, die von Entdeckern oder Seeleuten mitgebracht wurden. Die konservierten toten Tiere oder auch nur Teile von ihnen kamen in die Naturalienkabinette privater Sammler oder in die anatomischen Theater. Sie konnten aber auch auf der Beobachtung von lebenden Vögeln in Gefangenschaft in Hofgärten und Menagerien beruhen, die im Besitz von reichen Schirmherren und Adligen waren. Im Schloss Friedenstein in Thüringen konnten zum Beispiel mehrere Papageien, darunter auch ein „indianische[r] Rabe“ [2] betrachtet werden, der 1661 von einem Schausteller ins Schloss gebracht wurde. Die exotischen Vogelstudien des 17. Jahrhunderts, wie die von Papageien, trugen nicht nur zur Erforschung und Dokumentation der außereuropäischen Vogelwelt bei, sondern hatten auch einen kulturellen Einfluss. Die Studien sind ein Zeugnis für die Neugier und Begeisterung der europäischen Menschen des 17. Jahrhunderts für die Vielfalt der Natur. Exotische Vögel wurden nicht nur als Illustration und Dokumentation für wissenschaftliche Bücher und Sammlungen verwendet, sondern aufgrund ihrer auffälligen Farben, Formen und Muster als ästhetisch ansprechend angesehen. Ihre feinen Details und komplexen Muster dienten als Übungsfeld für das Studium von Farbtheorie und Techniken zur Darstellung von Farben und Texturen in der Malerei. Künstler studierten die Anatomie von Vögeln, um realistische Darstellungen zu schaffen. Dies half nicht nur bei der künstlerischen Genauigkeit, sondern trug auch zum wissenschaftlichen Verständnis der Tierwelt bei.
[1] Vgl. Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real-Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Frankfurt am Main 1778 ff., 23 Bde., hier Bd. 16 (1793), s.v. Rabe, Indianischer, S. 305 (Heinrich Martin Gottfried Köster).
[2] Dominik Collet: Die Welt in der Stube. Begegnungen mit Außereuropa in Kunstkammern der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007, S. 91.