Auf der Zeichnung ist mittig eine Tulpe, rechts daneben ein einzelnes Blütenblatt in einer geschwungenen Form dargestellt. Dieses einzelne Blütenblatt erweckt den Anschein, dass es sich soeben aus dem Blütenkelch gelöst hat und gerade zu Boden schwebt. Die Fehlstelle im Kelch lässt den Blick in das Innere der Blüte zu, so dass darin drei Staubblätter erkennbar sind. Diese präzise und detailreiche Zeichnung in Aquarell zeugt davon, dass der Zeichner diese Pflanze sehr genau studiert hat und ein besonderes Interesse an der Botanik besaß. Es wäre möglich, dass er nach einem Original gezeichnet oder aber eine bildliche Vorlage hatte, zum Beispiel aus einem sogenannten Florilegium. Florilegien waren Blumenbücher, welche im 17. Jahrhundert neben Kräuterbüchern entstanden sind. [1] Es gab sogar reine „Tulpenbücher“ mit aquarellierten Darstellungen darin, die als Handelskataloge weitergereicht wurden, um potentiellen Käufern von Tulpenzwiebeln einen Eindruck zu vermitteln, wie die Tulpe in ihrer Blüte aussieht. [2] Ebenfalls waren die Aquarelle der Florilegien Vorbilder für Blumenstillleben in Öl, wie sie zum Beispiel von Judith Leyster (1609-1660) gemalt wurden. [3] Die Tulpe erlebte als Spekulationsobjekt ihre Hochzeit um 1636, bevor sie an wirtschaftlichem Wert 1637 verlor, als die Börse in Amsterdam zusammenbrach. [4] Der symbolische Wert der Tulpe blieb allerdings weiterhin bestehen, war sie doch für Sammler und Gelehrte ein Kunstobjekt, das metaphorisch für die Schönheit der Natur und das Wunder der göttlichen Schöpfung steht. [5] So schrieb der Botaniker Carolus Clusius (1526-1609), der maßgeblich an der Verbreitung der Tulpen nördlich der Alpen beteiligt war: „Gott gab jeder Pflanze ihre Kraft, und jede Pflanze zeugt von seiner Gegenwart.“ [6] Der Reichtum, in unserem Fall der Art der Tulpen, wird durch eine Vielzahl von Farben und Formen gewürdigt, den wiederum die Künstler mittels Zeichnungen auf ewig festzuhalten versuchten.
Auch in Hamburg waren im 17. Jahrhundert Tulpen in den Gärten der Handelsherren zu sehen. So entstand zum Beispiel das sogenannte Moller-Florilegium, welches im Auftrag des Hamburger Bürgermeisters Barthold Moller (1605-1667) in Auftrag gegeben wurde. In diesem Blumenbuch werden sehr viele Varietäten von Tulpen als Zeichnung gezeigt.
Zur Zeit der Entstehung des vorliegenden Blattes könnte der Zeichner aus einem Blumenbuch die Tulpe als Vorlage benutzt haben, um sich, ähnlich im Zeichnen nach der Natur, zu üben. Wurde doch die imitatio, die Nachahmung für angehende Künstler empfohlen, um diese Zeichnungen eventuell als Studienmaterial Teil einer späteren Komposition werden zu lassen. [7] Weiterhin schulte das Nachzeichnen das formanalytische Sehen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Stiften, Farben und anderen Malutensilien. Das Nachzeichnen hat zudem den Vorteil, dass sich Inspirationen für weitere Zeichnungen ergeben. [8] Das Blatt zeugt vom Einfühlungsvermögen und Interesse des Zeichners in die heimische Pflanzenwelt. Im Vergleich mit Abbildungen aus anderen Blumenbüchern fällt auf, dass der Zeichner dieses Blattes durch das fehlende und fallende Blütenblatt den Einblick in das Innere der Blüte von der Seite gewährt. In vielen publizierten Darstellungen der Zeit sind die Blüten geschlossen oder aber es wird ein Einblick in das Innere der Blüte von oben gegeben. Dahingehend ist es eine besondere Ansicht der Blüte, die uns der Zeichner auf diesem Blatt präsentiert.
[1] Vgl. Sam Segal: Die Botanik der Tulpe, in: Tulpomanie. Die Tulpen in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts, hrsg. von André van der Goes, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kunstgewerbemuseum, Zwolle 2004, S. 29–58, hier S. 29–30.
[2] Vgl. Segal 2004, S. 31.
[3] Vgl. Anne Goldgar: Kunst und Natur – Sammellust und Tulpenhandel in den Niederlanden, in: Ausst.-Kat. Dresden 2004, S. 55-62, hier S. 61.
[4] Vgl. André van der Goes: Vorwort, in: Ausst.-Kat. Zwolle 2008, S. 6-8, hier S. 6.
[5] Vgl. Pieter Biesboer: TULPOMANIE – Tulpenzucht und Tulpenhandel in den Niederlanden, in: Ausst.-Kat. Dresden 2004, S. 47-54, hier S. 47.
[6] Celia Fischer: Blumen der Renaissance. Symbolik und Bedeutung, München/London/New York 2011, S. 82.
[7] Vgl. Maria Heilmann: Kunstbüchlein. Zeichenlehrbücher im 16. Jahrhundert und ihr didaktischer Bildeinsatz, Rosenheim 2020, S. 101.
[8] Vgl. ebd. S. 156–158.