Eine Kopiervorlage für die Zeichnung auf dieser Seite wurde bisher nicht gefunden. Vielleicht darf man spekulieren, dass Levezows prominent angebrachte Signatur und Datierung unten mittig im Bild anzeigt, dass er hier einen eigenen kreativen Anteil bei der Darstellung beansprucht. Allerdings ist das Thema in der Bildenden Kunst häufig und vielfältig bearbeitet worden. Es handelt sich um das biblische Thema Jesu Besuch im Hause der Martha und ihrer Schwester Maria (Lk 10,38-42). [1] Dieses theologisch so problematische und damit künstlerisch anregende Thema hat viele Künstler verschiedener Genres zu überraschenden Darstellungen geführt. Das theologische Problem liegt in Jesu Antwort auf Marthas Vorhaltung, dass er Maria anweisen solle, ihm nicht nur zuzuhören, sondern sie bei der Arbeit für den Gast zu unterstützen. Er antwortet jedoch: [41] „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden.“ [2] Diese Antwort führte zur theologischen Diskussion, ob die individuelle Kontemplation im christlichen Sinne der tätigen Nächstenliebe vorzuziehen sei. [3] So hat z.B. Meister Eckhart (um 1260 – 1328) in seiner Predigt 86 eine Hierarchie des Verhaltens zu dieser Szene konzipiert. [4]
Ob Levezow diese theologische Problematik bewusst war, als er das Thema für seine Zeichnung auswählte, können wir nicht bestimmen. Immerhin fällt auf, dass es eine von lediglich zwei biblischen Szenen im Album ist – neben dem eingeklebten Kupferstich des Jüngsten Gerichts auf den Seiten 14v-15r.
Levezow gestaltet ein sehr großzügiges und schmuckloses Haus. Eine offene, fast leere Küche befindet sich im Hintergrund. Sie öffnet sich hinter einer Balustrade und einem Rundbogen in eine offene Landschaft. Maria sitzt auf einem Stuhl mit einem voluminösen Kleid bekleidet, das sie zur Arbeit geradezu unfähig macht. Martha steht hinter dem gedeckten Tisch. Sie trägt eine Arbeitsschürze, obwohl sie sich der Stellung ihres hohen Gastes Christus bewusst ist. Jesus mit Spitzbart sitzt am linken Rand, mit einem auffälligen aufgebauschten Ärmel. Die Gesten der Beteiligten deuten den oben beschriebenen Dialog an. Aufgrund der offensichtlichen kunstruktiven Mängel erscheint es unwahrscheinlich, dass Levezow nach einer Vorlage kopiert, sondern vielmehr versucht hat, das Thema in einem eigenen Entwurf zu bearbeiten.
[1] Hinweis von Dr. Martin Hirschboeck.
[2] https://www.bibleserver.com/EU/Lukas10%2C38-42; die deutsche Einheitsübersetzung (zuletzt abgerufen am 16.06.2024) „Maria hat den guten Teil gewählt“ ist bereits eine Glättung der Diskussion. In der Vulgata steht z.B. „Maria optimam parte elegit“ (https://www.die-bibel.de/bibel/VUL/LUK.10 ) (zuletzt abgerufen am 16.06.2024) also „den besten Teil“.
[3] Dietmar Mieth: Die Einheit von Vita Activa und Vita Contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler, Regensburg 1969.
[4] https://homepage.univie.ac.at/kurt.walter.zeidler/Eckhart%20-%20Abgleichung%20Quint-Diogenes-Z%C3%A4hlung.pdf (zuletzt abgerufen am 16.06.2024)