Aus der vorliegenden Sammlung von Skizzenbuchblättern hebt sich vor allem eine Zeichnung hervor: Ein Jüngling, unbekleidet und mit erhöhtem Sitz auf einem Felsen, zieht mit seiner rechten Hand etwas aus seinem linken Fuß – einen Dorn, wie der gelehrte Blick weiß. Sein rechter Fuß baumelt frei in der Luft, während sein Kopf leicht nach rechts geneigt ist und sein Blick nach unten zeigt. Levezow wählte als Vorlage – neben den antiken Büsten nach Rubens
als einzige Antike des Albums eine Version des Dornausziehers. Hier arbeitete der Künstler mit Pinsel in Rot, um dem Körper Plastizität zu verleihen. Die Zeichnung orientiert sich vermutlich an einem Kupferstich des niederländischen Künstlers Cornelis Cort (1533-1578). [1] Dieser hatte durch seine technische Innovation der „schwellenden Linie oder Taille“ im Bereich der Druckgraphik prägenden Einfluss auf einige der bedeutendsten Kupferstecher seiner Zeit. Sowohl Hendrick Goltzius als auch Agostino Carracci studierten Corts Werke, welcher neben seiner Arbeit für Hieronymus Cock auch durch seine Fähigkeit, Kunstwerke in Druckgraphiken zu übersetzen, Bekanntheit erlangte. [2] Hierbei ging es nicht um das reine Kopieren eines vorliegenden, meist antiken Werkes, sondern vielmehr um die künstlerische imitatio [3] , also die Übernahme von ästhetischen Standards, um diese zu bewahren und in eigenständigen Entwürfen zu erproben und weiterzuentwickeln.
Bereits Anfang des 16. Jahrhunderts war das Sammeln von Reproduktionsgraphiken in den Werkstätten gängig und gilt als prägendes Medium für künstlerische Transferprozesse dieser Zeit. Auch die Verwendung von Cornelis Corts Werken im akademischen Lehrbetrieb und bei Dilettanten erscheint naheliegend, da sein Oeuvre mit einer Vielzahl von Graphiken antiker Statuen und bedeutenden Gemälden einen verbindlichen Kanon bereitstellte. Seine Graphiken wurden von bekannten Künstlern und Künstlerinnen kopiert und weiterverbreitet, wie etwa von der Kupferstecherin Diana Scultori (1547-1612), die 1581 einen neuen Stich des Spinario anfertigte. [4] Zudem erscheint eine Reproduktion von Cornelis Corts Dornauszieher in dem bedeutenden Sammelwerk Segmenta nobilium signorum et statuarum von François Perrier [5] (Bild sehen) in Antonio Lafrérys Speculum Romanae Magnificentiae von 1583 sowie in dem 1621 publizierten Antiquarum statuarum urbis Romae, quae in publicis privatisque locis visuntur icones . (Bild sehen)
[1] Hollstein’s Dutch and Flemish Etchings, Engravings, and Woodcuts, ca. 1450-1700, Amsterdam 1968, Vol. V, Cornelisz.-Dou, S. 54, Nr. 151.
[2] Vgl. Susanne Pollack: Schwellende Linien. Cornelis Cort, Agostino Carracci, Hendrick Goltzius und die Erweiterung gestochener Liniensysteme im 16. Jahrhundert, in: Sich kreuzende Parallelen. Agostino Carracci und Hendrick Goltzius, hrsg. v. Graphische Sammlung ETH Zürich, Susanne Pollack und Samuel Vitali, Ausst.-Kat., Graphische Sammlung ETH Zürich, Zürich/Petersberg 2020, S. 15-31, hier S. 17.
[3] Laura Di Carlo: Die intermediale (Re-)Inventio der Herkulestaten von Frans Floris. Die Druckgraphiken Cornelis Corts und die Tapisserien Michiel de Bos’ im (bild-)kulturellen Austauschprozess des 16. Jahrhunderts, in: (Re-)Inventio. Die Neuauflage als kreative Praxis in der nordalpinen Druckgraphik der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Mariam Hammami u.a., Berlin/Boston 2022, S. 311-349, hier S. 322.
[4] Die Kunst der Interpretation. Italienische Reproduktionsgraphik 1485-1600, hrsg. v. Norberto Gramaccini und Hans Jakob Meier, Berlin/München 2009, S. 194.
[5] Vgl. zu Perriers Werk: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, hrsg. v. Helmut Friedel, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, Köln 2001, S. 120-121, Nr. 21 (Barbara Eschenburg), hier S. 120.